J. Auderset (u.a.): Die Agrarfrage in der Industriegesellschaft

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Titel
Die Agrarfrage in der Industriegesellschaft. Wissenskulturen, Machtverhältnisse und natürliche Ressourcen in der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft (1850–1950)


Autor(en)
Auderset, Juri; Moser, Peter
Erschienen
Wien 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
€ 45.00
URL
von
Werner Baumann

Wenn in historischen Werken die Agrarpolitik des 20. Jahrhunderts zur Sprache kommt, bleibt die Analyse häufig etwas unterkomplex und orientiert sich stark an der Sicht der zeitgenössischen liberalen oder sozialistischen Kritik dieser Politik, wonach es vor allem um Schutz und Erhaltung veralteter Strukturen gegangen sei – die tiefgreifenden Veränderungen geraten so wenig in den Blick. Zu den Ausnahmen gehören seit Jahren die Analysen von Peter Moser, der Landwirtschaft und Agrarpolitik in die ökonomischen, sozialen und politischen Gesamtentwicklungen einzubetten versucht. Zusammen mit Juri Auderset, der ebenfalls am Berner Archiv für Agrargeschichte tätig ist, das Moser leitet, gräbt er nun noch eine Schicht tiefer und sucht nach den Wissenskulturen, welche hinter diesen Entwicklungen stehen. Herausgekommen ist ein anspruchsvolles Buch über die «agrarisch-industrielle Wissensgesellschaft». Unter diesem Terminus verstehen die Autoren «jenes Ensemble von Akteuren, Institutionen, Diskursen und Praktiken, das im Verlaufe der Versuche zur Integration der Landwirtschaft in die modernen Industriegesellschaften von der Mitte des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden ist und die Interaktionen des Industriellen mit dem Agrarischen geprägt hat». Im Zentrum der Analyse stehen Quellen aus der Schweiz, also ist auch der Beobachtungsraum in erster Linie die Schweiz, aber viele Ergebnisse auf der theoretisch-abstrakten Ebene werden weit über ihre Grenzen hinaus brauchbar sein.

Ausgehend von der Debatte über das Verhältnis von Landwirtschaft und Industrie in der SPD, die Ende des 19. Jahrhunderts von Eduard David und Karl Kautsky mit grosser Sachkenntnis geführt wurde, entwickeln Auderset und Moser zunächst die Gegensätze zwischen industrieller und agrarischer Logik. Die Unterordnung der Landwirtschaft, die an Naturkreisläufe gebunden ist, unter industriell-rationale Logiken gelang nicht. Zwar wurden Verarbeitung, Handel und Vertrieb von Nahrungsmitteln von einer umfassenden Industrialisierung erfasst, aber Produktion und Konsum blieben vorläufig «weitgehend an die spezifischen, nicht serialisierbaren temporalen Eigenlogiken des Lebendigen gebunden». Erst in den 1950er Jahren sehen die Autoren eine Transformation, in welcher industrielle Logik durch Verwissenschaftlichung zunehmend in die Landwirtschaft eindringt, weshalb sie für die darauffolgende Zeit die Relation im Begriff umkehren und von einem dann einsetzenden «industriell-agrarischen» Wissensregime sprechen.

Durchgeführt wird die Analyse am Beispiel der betriebswirtschaftlichen Schlüsseltechnik der doppelten Buchhaltung (bei deren Adaptation auf Bauernbetriebe das schweizerische Bauernsekretariat unter Ernst Laur auch international eine wichtige Rolle spielte), an den Bestrebungen zur Mechanisierung und Motorisierung der landwirtschaftlichen Produktion, an der Entwicklungsdynamik im Bereich der Pflanzenzüchtung und -ernährung und schliesslich an Züchtung, Haltung und Ernährung von Tieren. Zu diesem letzten Thema stellen die Autoren fest, dass die erste Mechanisierungswelle zur Folge hatte, dass es nicht weniger, sondern mehr Zugtiere, vor allem Pferde, brauchte. Deren Anzahl nahm zu, bis in den 1950er Jahren das «Überpferd» Traktor (dessen Stärke bekanntlich in «Pferdestärken» gemessen wird) seinen Siegeszug antrat. Auch in der Viehzucht dominierte lange noch das multifunktionale Zuchtideal (Milch, Fleisch und Zugkraft). Erst in der Nachkriegszeit fand die erwähnte Transformation statt:

Die nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der Agrarproduktion technisch möglich gewordene Substitution von lebenden durch mineralische Ressourcen im grossen Stil hatte nicht zur Folge, dass die landwirtschaftlichen Nutztiere überflüssig wurden, sondern dass sie ihres Charakters als multifunktionale Arbeitswesen beraubt wurden. Ihre bisherigen Leistungen wurden unter dem Einfluss von Motorisierung, künstlicher Besamung und dem Einsatz chemischer, antibiotischer und hormoneller ‘Leistungsförderer’ in der Fütterung zunehmend auf eine Leistung reduziert – entweder diejenige, möglichst schnell schlachtreif zu werden, oder die, möglichst viel Milch zu geben.

Auch in dieser industriell-agrarischen Periode behält die Agrarfrage, so die Autoren, ihre «ungebrochene Aktualität». Die Entwicklung seit den 1950er Jahren wird allerdings nur angedeutet. Auf eine zeitliche Fortsetzung der Analyse kann man also gespannt sein, tritt doch in dieser Phase inneragrarischer Widerspruch in Gestalt der biologischen Landwirtschaft auf, die der spezifisch agrarischen Logik wieder mehr Gewicht verschaffen will.

Zitierweise:
Werner Baumann: Juri Auderset, Peter Moser: Die Agrarfrage in der Industriegesellschaft. Wissenskulturen, Machtverhältnisse und natürliche Ressourcen in der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft (1850–1950), Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 470-471.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 470-471.

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